Borna
(kj). Seit dem Jahre 1972 ist es überall
in Deutschland Tradition, am Freitag vor
dem Palmsonntag einen ökumenischen
Jugendkreuzweg zu gehen. Und so luden
also am letzten Freitag (2. April 1993)
auch in Borna die
evangelisch-lutherische, die freie
evangelische und die römisch-katholische
Kirchgemeinde die jungen Christen unserer
Region in die Stadtkirche St. Marien zur
Andacht in der Passionszeit ein.
Bereits im 14. Jahrhundert gab es
Umgänge, bei denen man die Stätten des
Leidens Jesu Christi in Jerusalem
aufsuchte. Daraus entstand im Abendland
unter franziskanischem Einfluss die
volkstümliche Andachtsform des
Kreuzweges, zunächst mit sieben
Stationen, später mit vierzehn Stationen.
Das Abgehen der einzelnen Stationen von
der Verurteilung vor Pontius Pilatus bis
zur Grablegung dient bis heute der
Verbindung mit dem Leiden Jesu und der
Selbstbesinnung. Wann und wo Menschen den
Kreuzweg gingen, verinnerlichten sie das
Leiden Jesu im Zusammenhang mit der
Besinnung auf eigene Lebenserfahrungen,
erinnerten sie sich ihrer wie auch immer
gearteten Beteiligung am menschlichen
Leiden.
Eben diesen Impetus der
Kreuzwegandacht griffen die Bornaer
Kirchgemeinen auf, als sie den
ökumenischen Jugendkreuzweg in diesem
Jahr unter das schlichte Thema
"beteiligt" stellten. In der Begehung von
drei Stationen sollten leidvolle
Ereignisse der Ortsgeschichte in
Erinnerung gebracht werden. Und so hatten
sich also am Freitagabend christliche
Jugendliche versammelt, die die Bänke der
Stadtkirche bis in die letzten Reihen
füllten. Sie wollten sich, als sie nach
einer Einstimmung auf das Thema der
Andacht dem großen, aus den
Umweltgottesdiensten bekannten Holzkreuz
nach ihren Weg durch die Stadt antraten,
auf den Weg der Erinnerung begeben. "Es
soll ein stiller Weg werden", hatte
Pfarrer Heiko Franke gesagt, "als ein
Zeichen dafür, dass dies eine Zeit der
Nachdenklichkeit ist."
Es dämmerte bereits, als der Zug die
erste Station erreichte: Das ehemalige
jüdische Geschäftshaus Britania in der
Roßmarktschen Straße 32. In der
Progromnacht des 9. November 1938 wurden
hier der Sohn des Geschäftsführers
Frederick Rose und dessen Onkel Opfer
eines Anschlages. Kaplan Benno Kosmala
las aus den Erinnerungen der Frederick
Rose, der heute in Kanada lebt:
"Nach
Einbruch der Dunkelheit hörten wir
Axtschläge, und kurz darauf wurde die
hintere Eingangstür vom Garten aus
eingeschlagen. Ein Kommando von ungefähr
acht Mann in Schaftstiefeln stürmte die
Treppe herauf: 'Raus mit den
Judenschweinen!' Sie schlugen die
verriegelte Wohnungstür ein, und unter
Drohung mit Revolvern wurden mein Onkel
und ich gezwungen, das Geschäft vom
Hintereingang aufzuschließen und alle
Türen und Schaufensterrollläden zu
öffnen. Alle Schaufenster wurden darauf
sofort von draußen eingeschlagen und die
Waren herausgerissen. Während mein Onkel
und ich noch im Geschäft waren, wurden
wir mit einem zerbrochenen Stuhl
geschlagen, bis wir beide am Kopf
bluteten. Nachdem die gesamte Einrichtung
zertrümmert war, brachten Männer
Benzinkannen, bespritzten Wände und
Kleidungsstücke, auch im Warenlager im
ersten Stock. Innerhalb weniger Minuten
war das Geschäft von allen Seiten
angezündet. Mein Onkel und ich wurden
dann durch die Vordertür hinausgestoßen
und nochmals öffentlich verprügelt. Wir
wurden verhaftet, aber am nächsten Tag
freigelassen ... Wir fanden das Geschäft
völlig ausgebrannt, einschließlich der
kleinen Wohnung und des Warenlagers. Nach
drei Stunden Freiheit kam anscheinend
eine Anordnung von Leipzig an die Bornaer
Polizei, uns beide offiziell zu
verhaften, angeblich wegen Brandstiftung
... Am nächsten Morgen wurden wir mit
anderen verhafteten Juden der Umgebung
zur SS-Judensammelstelle am Leipziger
Ausstellungsgebäude gefahren, wo ich von
meinem Onkel getrennt wurde und von wo
ich dann, einen Tag später, trotz meines
17-jährigen Alters, in das KZ
Sachsenhausen abtransportiert wurde."
Der Bericht des Frederick Rose
spricht von einer Menge, die sich in
jener Nacht vor dem Geschäft eingefunden
hatte. Offenbar Schaulustige, die dann
mitprügelten. Am letzten Freitag hatte
sich keine Menge versammelt, um am
Gedenken der Jugendlichen teilzuhaben.
Dunkelheit senkte sich über die leeren
Bornaer Straßen, durch die sich der Zug
zur nächsten Station am
Pestalozzi-Kinderheim bewegte. Wo heute
Neubauten stehen, stand 1940 ein Galgen.
Hier wurde ein polnischer Zwangsarbeiter
erhängt, weil er ein deutsches Mädchen
liebte. Joachim Weischet von der freien
evangelischen Gemeinde war als Kind Zeuge
der Hinrichtung. Er erzählte, was er
damals sah: Jenes Mädchen mit geschorenem
Kopf, die übrigen Polen, die gezwungen
worden waren, der Hinrichtung
zuzuschauen, und die braunen Schuhe des
jungen Polen, die im Todeskampf zappelten
... An jeder Station dieses Kreuzweges
standen Kerzen, die die Jugendlichen beim
Weitergehen mitnahmen: Kleine Lichter,
wie Funken von Erinnerungen, die den Weg,
der nun zur dritten Station, dem
Volksplatz, führte, nur wenig
beleuchteten. Dieser Platz war 1935 als
Ting-Platz eingeweiht worden. Er sollte
eine Stätte germanischen Deutschtums
sein, wie es die Nationalsozialisten
verstanden. Nach 1945 wurde er in
"Volksplatz" umbenannt, 1977 wurde die
große Kinowand errichtet. Ein Ort
sozialistischer Kultur nun – unter
Beibehaltung faschistischer Architektur.
Nur die Spruchbänder wechselten mit den
Zeiten: Warben sie erst für Führer, Volk
und Vaterland, so propagierten sie später
Sozialismus und Bruderschaft mit der
Sowjetunion. Und wofür soll heute
geworben werden, so fragten die
Teilnehmer des Kreuzweges. Für die
Süßigkeiten der Marktwirtschaft?
Verlassen und verfallen liegt der Platz
da, unmenschlich, ein architektonisches
Monstrum.
"Das Geheimnis unserer Erlösung heißt
Erinnerung", zitierte Kaplan Benno
Kosmala einen Satz von Elie Wiesel, als
er bei der Rückkehr des Zuges in die
Stadtkirche zu einer Kollekte für die
Jugendbegegnungsstätte der Aktion
Sühnezeichen / Friedensdienste e.V. in
Auschwitz aufrief. Wie schwer es ist,
diesen Erlösungsweg zu gehen, wie schwer
sich eine Erinnerung einstellt, die aus
der Stille, der Nachdenklichkeit und der
Andacht, aus der Beteiligung, erwächst,
diese Erfahrung werden die Jugendlichen
auf ihrem Kreuzweg am Freitag wohl
gemacht haben. Die Wege der Erinnerung
sind heute verstellt vom alltäglichen
"take ist easy", von einer exzessiven
Vitalität im Hier und Jetzt, von der
immer lautstarken Bejahung eines
angeblichen Wohllebens, von der
Gleichgültigkeit gegenüber Schicksalen,
von der Gleichgültigkeit gegenüber
Gewalt. Dies Vergessen im Namen des
Wohlstandes ist es, woran wir Heutigen
beteiligt sind, wir, die jene Ereignisse,
von den auf den drei Stationen des
Bornaer Jugendkreuzweges berichtet wurde,
nicht mehr aus eigenem Erleben kennen.
Wir sind beteiligt daran, dass die
Botschaften der Vergangenheit uns nicht
mehr erreichen – wenn wir uns nicht der
Leichtlebigkeit entgegenstellen. Dies ist
unser Kreuzweg.