Holger Worm mit einer Munitionskiste des HASAG-Zweigwerkes Altenburg.
Flößberg, Altenburg, Colditz, Leipzig: Das HASAG-Geschäft mit dem Tod
Panzerfäuste im Flößberger Wald, Gewehrpatronen in Altenburg: Die HASAG, einer der größten deutschen Rüstungskonzerne, produzierte vielerorts. Holger Worm kennt Geschichte und Geschichten.

Flößberg. Vor 150 Jahren wurde Hugo Schneider alleiniger Eigentümer eines Unternehmens, das unter der Marke HASAG zu den größten deutschen Rüstungskonzernen zählte. Gewehrmunition, Granatzünder, Panzerfäuste wurden nicht nur in Leipzig, sondern auch in Meuselwitz und Altenburg, in Colditz und Grimma, in Flößberg und Taucha und an vielen anderen Orten hergestellt. Zehntausende – viele angeworbene Ausländer, später vor allem Zwangsarbeiter und in Konzentrationslagern Gefangene – mussten in den Fabrikhallen schuften. Unzählige starben an den unmenschlichen Bedingungen, wurden umgebracht. Holger Worm gehört zu jenen, die sich intensiv mit der Geschichte der Hugo Schneider AG beschäftigten. Zugang dazu fand er aus ungewöhnlichem Blickwinkel: Der Kriminalpolizist befasst sich seit Jahrzehnten mit Munition.

Flößberg: Häftlingsfriedhof erinnert an die Opfer

Im Großen Fürstenholz nahe Flößberg befindet sich versteckt ein Erinnerungsort. Auf den stößt, wer den unauffälligen Wegweisern folgt: Hier befand sich ab November 1944 ein Außenlager des KZ Buchenwald, errichtet durch die HASAG. Jüdische Häftlinge begannen hier im März 1945, Panzerfäuste zu produzieren. Mindestens 235 Menschen fanden den Tod. Diese Zahl nennt die Bürgerinitiative Flößberg gedenkt, 2005 gegründet. Der Geschichtswerkstatt Flößberg e.V. und der Förderverein Gedenkstätte Flößberg e.V. recherchierten zur Geschichte des Lagers, zu Schicksalen, initiierten Zeitzeugen-Gespräche und sorgten vor allem dafür, dass der historische Ort im Wald mit seinem Mahnmal erhalten bleibt und seine Geschichte zugänglich gemacht wird.

Patronensammler forscht zu Rüstungskonzern

Wenden sich die Flößberger dem komplexen Thema HASAG aus der Perspektive jener zu, die hier litten, sind die Rüstungsgüter des Unternehmens für Holger Worm Ausgangspunkt der Forschungen. "Teile der HASAG-Geschichte war in Patronensammler-Kreisen Mitte der 90er Jahre schon bekannt", sagt der 60-jährige, aufgewachsen in Weida, tätig in Gera und nach Altenburg wechselnd. Dass die HASAG in Altenburg Munition für die Infanterie und für die Flugzeug-Bordwaffen herstellte, war bekannt, ebenso die Fertigung von Handgranaten, Zündern und Geschossteilen in einem Zweigwerk in Meuselwitz. Belege fanden sich in größerer Zahl nicht nur in Worms Sammlung – gestempelt auf Patronen- und Granathülsen, gedruckt auf Verpackungen.

HASAG-Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt

"Für mich war das der Anstoß, Informationen zusammenzutragen, zu bündeln, zu systematisieren", sagt Worm. Schnell stellte er fest, dass sich dem HASAG-Komplex viele widmen, dass jeder von ihnen Mosaikstein an Mosaikstein fügt, um ein immer facettenreicheres, klareres Bild jenes Rüstungskonzerns zu entwickeln, der vor mehr als anderthalb Jahrhunderten mit der Produktion von Blechwaren und Lampen begann, der Petroleumleuchten und Brenner bis Südamerika und Japan exportierte (bis heute ein Begriff für Kenner!), der sich später Fahrrad- und Autobeleuchtung zuwendete. Worm hält zu vielen Kontakt: "Wir sind ein kleiner Kreis, der sich regelmäßig abstimmt." Sein Fundus an Informationen und Exponaten wächst. Ist das Thema nicht irgendwann ausgeforscht? Worm schüttelt den Kopf: "Es kommt aber darauf an, wie weit man es herunterbrechen will. Die Firmengeschichte insgesamt kann noch Generationen beschäftigen." Viele Unterlagen wurden durch Kriegseinwirkung vernichtet, durch die US- und die sowjetischen Besatzer konfisziert. Sie ruhen in Archiven. Doch nicht nur dort lasse sich immer wieder etwas entdecken, sondern auch bei der Sichtung von Nachlässen, beim großen Aufräumen, wenn Ältere, die die Kriegszeit miterlebten, stürben.

Streitwald: Friedensware aus Rüstungsgütern

Trinkbecher aus brauner Emaille, Kannen, Milchtöpfchen, merkwürdig geformte Trichter, Durchschlag-Siebe gruppiert Günter Neubauer auf dem Tisch seiner Streitwalder Heimatstube. Gefertigt ist das Geschirr aus Panzerfaust-Teilen, aus Gasmasken-Behältern: Friedensware anno 1945/46 aus dem Geithainer Emaillierwerk, Konsumgüter-Produktion würde man das später nennen. Sammler ist auch der 82-jährige und sehr interessiert daran, weitere Exponate aus dieser Zeit aufzuspüren (Telefonnummer 034348 / 52 546). Holger Worm hat sich in Neubauers Historien-Kosmos umgeschaut. Er ist beeindruckt: "Da sind interessante Sachen dabei." Interessantes auch für den Munitionsspezialisten: Zum Beispiel Kisten der HASAG vom buchstäblich letzten Produktionstag 12. April 1945, ehe US-Truppen den Raum Leipzig erreichten.

Dass die HASAG in Altenburg und Meuselwitz Fabriken unterhielt, habe die Amerikaner nach ihrem Einmarsch überrascht, sagt Worm. Die Erzählung, der britische Sender BBC habe die Meuselwitzer vor einem Bombenangriff am 20. Februar 1945 gewarnt, halte sich als Gerücht, sei aber widerlegt. Ebenso, dass das Flößberger Lager gezielt angegriffen worden sei; jene Bomben, die am 5. März die Produktionshalle, aber auch Gebäude des Dorfes trafen, seien im Überflug Richtung Magdeburg ungeplant abgeworfen worden. Dass die HASAG im Colditzer Steingutwerk eine Munitionsfabrik unterhielt, wussten Patronensammler anhand der Werks-Codes: "Es gab aber keine Munition dazu." Was daran lag, dass die Anlagen, ab November 1944 durch KZ-Häftlinge aufgebaut, die Produktion nicht mehr aufnehmen konnten.

Holger Worm sammelt von Jugend an

Mehrere hundert Exponate jener Munitionssammlung, die Holger Worm besitzt, tragen Prägungen, die auf die HASAG hinweisen. Einige stellt er Gedenkstätten zu Ausstellungszwecken zur Verfügung. Das Faible für Munition hat er seit Kindertagen, als er nach Übungsschießen der Polizei die leeren Hülsen aufhob. Beruflich hat er seit Jahrzehnten mit Waffen und Munition zu tun, ist zudem als Sportschütze aktiv. Gesammelt, getauscht, geforscht wird unter dem Dach der Deutschen Forschungsgesellschaft für Munition, Teil der European Cartridge Research Association.

Von Patronen des Kalibers zwei Millimeter – der kleinsten Pistole der Welt – über das gängige Kaliber neun Millimeter Para, das bei der Polizei in Gebrauch bist, bis zur Deko-Panzerfaust (das heißt ohne Gefahrenstoffe) reicht die Breite dessen, was Worm in seinem Arsenal vereint. Das er nicht in der Wohnzimmer-Schrankwand und der Garage deponiert hat, sondern gesichert verwahrt: "Wer so etwas sammelt, braucht selbstredend Erwerbsscheine und Genehmigungen." Zu seiner Sammlung gehören neben Geschossen diverse Verpackungen, Hersteller-Unterlagen...

Viele Historiker sind am Thema HASAG dran

Die Produktpalette und die Geschichte der HASAG hat Worm vor einem Jahrzehnt in einem Überblickstext angerissen. Neben eigenen Recherchen und Zeitzeugen-Befragungen stützte er sich unter anderem auf Material des Limbach-Oberfrohnaers Dietmar Staude, des Leipzigers Dr. Klaus Hesse, des Bad Lausickers Wolfgang Heidrich, auf Archive und Sammlerkollegen – wohl wissend, vieles allenfalls antippen zu können. In dem Jahrzehnt seither hat sich der Horizont noch einmal geweitet. Nicht zuletzt durch die Forschungen des Tauchaers Roger Liesaus, der zur Geschichte der Leipziger Luftrüstungsindustrie seinen inzwischen dritten Film vorlegte. Ein Interviewpartner darin ist Worm.

Wenn Worm Rentner ist, will er endlich ein Buch schreiben

Das Buch für die Spezies der Munitionssammler, das Holger Worm schon Ende der 90er Jahre schreiben wollte, zu dem er aber nie kam, es könnte nun wohl bald Gestalt an- und die HASAG darin prominenten Raum einnehmen: "Ich muss in den Wust endlich Struktur reinbringen – nicht nur als Lektüre, sondern damit man die Dinge besser nachverfolgen und Verknüpfungen herstellen kann. Eine Rentner-Arbeit." Im Frühjahr 2022 scheidet er aus dem Polizeidienst aus. Dann könnte die beginnen.
Text: Ekkehard Schulreich, Leipziger Volkszeitung (16.06.2021)
Foto: Jens Paul Taubert
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