Rückblick
Ein Rückblick in Wort, Bild und Ton zu einer Veranstaltung der katholischen Gemeinde St. Joseph Borna.
Viele Kirchenbänke bleiben leer. In Sachsen kam es 2022 erneut zu vielen Kirchenaustritten.
Die Bänke bleiben leer: Kirchen laufen die Mitglieder davon
Immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus – zwei Pfarrer erläutern die Gründe

Landkreis Leipzig. Fällt laut Redewendung jemand vom Glauben ab, dann ist ein unerwartetes oder unwahrscheinliches Ereignis eingetreten. Übertragen auf die Kirchgemeinden im Landkreis Leipzig ist zwar nichts unerwartetes eingetreten, vom Glauben abfallen könnten Kirchenvertreter angesichts der Austrittszahlen aber alle mal.

Schaut man auf die drei bevölkerungsreichsten Städte Sachsens, zeigt sich ein deutlicher Trend. Zählte Leipzig im Jahr 2021 noch 2.899 Kirchenaustritte, waren es zum Stichtag Mitte Dezember 2022 insgesamt 3.273. Ein Anstieg um gut zehn Prozent. Ein ähnliches Bild wird in Dresden sichtbar. Die Stadt zählte mit 2.730 Kirchenaustritte exakt 690 mehr als im Vorjahr. 2021 traten in Chemnitz 417 Personen aus der Kirche aus, im vergangenen Jahr 458.

Am Stichtag, 31. Dezember 2021, zählte die evangelische Landeskirche 628.708 Glieder. Laut einer Statistik der Deutschen Bischofskonferenz lebten am genannten Stichtag 148.095 Katholiken im Freistaat Sachsen.

Landkreis Leipzig: Trend bestätigt sich

Auf LVZ-Anfrage lieferten die Verwaltungen aus Borna, Grimma, Markkleeberg und Markranstädt folgende Austrittszahlen aus den Jahren 2021 und 2022:

Borna: Im Jahr 2021 traten 21 Personen aus der Kirche aus (18 davon evangelisch). Im vergangenen Jahr waren es 27 Personen (22 davon evangelisch).

Grimma: Im Jahr 2022 kam es in der Großen Kreisstadt zu 53 Kirchenaustritten (evangelisch und katholisch). Die Zahlen von 2021 wurden bis Redaktionsschluss nicht zur Verfügung gestellt.

Markkleeberg: Ganz deutlich lässt sich der Trend in Markkleeberg erkennen. Traten im 2021 noch 54 Menschen aus der Kirche aus (davon 42 evangelisch), waren es 2022 mehr als doppelt so viele: 111 Menschen beendeten ihre Mitgliedschaft in der Kirche (davon 82 evangelisch).

Markranstädt: Als einzige der angefragten Städte verbuchte Markranstädt 2022 weniger Austritte als 2021. Waren es im Jahr 2021 insgesamt 27 Personen (davon 14 evangelisch), traten im darauffolgenden Jahr drei Personen weniger, also lediglich 24 aus der Kirche aus (davon 19 evangelisch).

Das sagt ein evangelischer Pfarrer zum Mitgliederschwund

Während des Gesprächs im Esszimmer des Grimmaer Pfarrhauses wird deutlich: Dieses Thema schmeckt Pfarrer Torsten Merkel so gar nicht. Er nimmt sich trotzdem die Zeit, um über seine Gemeinde und die vielen Herausforderungen zu sprechen. Seit mehr als zehn Jahren ist Merkel verantwortlich für die evangelisch - lutherische Kirchgemeinde Grimma.

Die Gründe für die steigenden Kirchenaustritte seien vielseitig, so Merkel. "Es geht hierbei um eine ganz allgemeine Entwicklung in unserer Gesellschaft. Ich habe das Gefühl, die Entfernung vom solidarischen Denken wird größer." Das habe zur Folge, dass einige Menschen Dinge einfordern, ohne etwas dafür zu tun oder geben zu wollen. Als weitere Gründe für Kirchenaustritte nennt Pfarrer Merkel persönlichen Zwist mit Kirchenmitarbeitern, die Kirchensteuer, das Image der Kirche, aber auch den Umstand, dass viele Bewohner des Landkreises Leipzig vom Elternhaus aus keinen Bezug zur Kirche mitbekommen haben. "Wie soll jemand die kirchliche Gemeinschaft bewerten können, wenn sie oder er diese gar nicht kennt?", fragt der Geistliche.

Auf die Frage, wie die Gemeinde dieser kritischen Entwicklung entgegensteuern kann, wirkt der sonst so redegewandte Pfarrer nachdenklich. Nimmt sich Zeit, bevor er antwortet: "Ich bin ehrlicherweise ein bisschen ohnmächtig", gibt er offen zu. "Mehr als das, was wir schon machen, können wir nicht tun." Er bemühe sich bereits mit aller Kraft, Menschen auf persönlicher Ebene zu begegnen. Darin sehe er einen Weg, das Interesse an der Kirchengemeinschaft zu wecken, denn "Kirche muss erlebbar sein." Regelmäßig unternimmt Pfarrer Merkel etliche Besuche beispielsweise in Pflege- und Altenheimen, zu Geburtstagen oder Ehe-Jubiläen, um mit den Bewohnern Grimmas und den Ortschaften in direkten Austausch treten zu können.

Zudem würden die Gemeinden ein großes Angebot für Freizeitaktivitäten bieten: von Musik- und Bibelkursen über Konzerte hin zu Reisen und Ausflügen. Mehr als alle Menschen einzuladen, Teil davon zu werden, könne er aber nicht tun, so der Pfarrer. Ein wenig Zuversicht lässt er dann doch noch aufblitzen. Er sagt: "Was mich optimistisch stimmt, sind die vielen engagierten Mitarbeiter und aktiven Kirchenglieder, die dabei helfen, dass die evangelische Kirche in die Gesellschaft hinein wirkt."

Das sagt ein katholischer Pfarrer zum Mitgliederschwund

Der Freistaat ist zwar überwiegend evangelisch geprägt, doch auch die katholischen Gemeinden mussten Kirchenaustritte hinnehmen. Pfarrer Markus Johannes Scholz ist verantwortlich innerhalb der großen Pfarrei Hl. Edith Stein mit Hauptsitz in Limbach-Oberfrohna für Borna, Geithain, Bad Lausick, Frohburg und Regis-Breitingen. Als einen Hauptgrund für die religiöse Abkehr einiger Menschen sieht der gelernte Elektronikfacharbeiter die Missbrauchsfälle und deren schwerfällige Aufarbeitung, was zu einem Vertrauensverlust geführt habe, wie er sagt. Zudem spiele auch die Vergrößerung der Zuständigkeitsgebiete der Pfarreien eine Rolle. "Der persönliche Kontakt zu den Gläubigen ist immens wichtig", unterstreicht Scholz. Größere Gebiete bedeuten weniger direkten Kontakt.

Die Kirchensteuer als Grund für einen Austritt anzugeben, sehe er hingegen als vorgeschoben. "Wenn die Einnahmen durch die Kirchensteuer wegfallen, werden die bestraft, die versuchen, das zu verwirklichen, wofür die Kirche steht", findet Scholz und meint damit die karitativen Einrichtungen und Kitas.

Christliche Werte zeitgemäß verpacken

Um den Trend der vielen Kirchenaustritte zu stoppen, setzt Markus Scholz auf Gemeinschaft. "Wir müssen es schaffen, christliche Werte zeitgemäß zu verpacken – und damit vor allem junge Menschen erreichen", erklärt er. Außerdem sei es sein Ziel, Antworten zu liefern. Doch bevor es dazu kommen kann, müsse man herausfinden, welche Fragen die Menschen umtreibt. Das gehe nur durch direkten Austausch.

Was Pfarrer Scholz zuversichtlich in die Zukunft blicken lässt, sind die vielen Ehrenamtlichen. "Das Engagement ist riesig. Hut ab!", zollt er seinen Respekt. Zudem mache es ihn glücklich, wenn Menschen zur Kirche finden, sich mit dem Selbst beschäftigen, sich fragen: Wo komme ich her, wo möchte ich hin? "Daraus entstehen qualitativ hochwertige Gespräche, die in mir Optimismus wecken." Trotzdem schränkt er ein: "Wir sind, was die Kirchenaustritte betrifft, noch nicht am Ende angekommen, die Talfahrt wird weitergehen."

Kommentar: Negativer Trend schwer zu stoppen
von Nikos Natsidis

Der Trend ist eindeutig, und er ist nicht neu. Seit Jahrzehnten verlieren die Kirchen Mitglieder. Ebenso lange läuft die Suche nach den Ursachen. Wirkliche Erkenntnisse, die zu einer Umkehrung der Entwicklung führen könnten, gibt es nicht.

Dass die großen Kirchen im Osten und besonders im schon immer vergleichsweise stark säkularisierten Sachsen unter Austritten zu leiden haben, kann kaum überraschen. Damit setzt sich fort, was schon seit Jahrzehnten zu beobachten ist und was schon lange vor den Anti-Kirchenkampagnen zu DDR-Zeiten begonnen hat. Das Bedürfnis nach Religion nahm jedenfalls auch nicht zu, als es nach Wende und Wiedervereinigung den Druck, aus der Kirche auszutreten, nicht mehr gab. Das schließt einige Neuerweckte nicht aus.

Unter dem Strich aber geht es um die Frage, ob und was die beiden großen Konfessionen ebenso wie kleine Glaubensgemeinschaften, die es im Landkreis Leipzig auch gibt, Unverzichtbares bieten können. In unsicheren Zeiten wie diesen, in denen es vielen Menschen an Orientierung fehlt. Die Kirchen haben durchaus Antworten. Allerdings wollen die, wie der Blick auf die Zahlen zeigt, immer weniger Menschen hören.
Text: Vincent Ebneth, Leipziger Volkszeitung (16.01.2023)
Fotos: Jens Schulze & Lutz Weidler
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