Handreichung mit
Kunstblut
Autorin Lilly Lindner stellt sich mit
einer ungewöhnlichen Lesung im Café
Offenkundig vor
Borna. Ungewöhnliche Lesung vorgestern
Abend (Mittwoch, 29. Mai 2013) im Café
Offenkundig: Die Berliner Schriftstellerin
Lilly Lindner stellte ihre Autobiografie
"Splitterfasernackt" vor, in der es um
Missbrauch, Prostitution und Essstörungen
geht. Dabei blickte die Autorin ihrem
Publikum fest in die Augen.
Lilly Lindner, 1985 in Berlin geboren,
setzt sich nicht mit ihrem Buch hinter
einen Schreibtisch mit Leselampe, um den
Tisch sozusagen zum Schutzschild gegenüber
dem Publikum werden zu lassen. Sie hält
noch nicht einmal ein Buch in den Händen.
Im Gegenteil. Sie nimmt es und reißt
einzelne Blätter heraus, die sich dann auf
dem Boden verteilen. Davor hat sie bereits
Manuskriptblätter, mit roten Flecken
benetzt, Gemälde, die aussehen wie von
Kinderhand gemalt, und Bonbons wild auf
dem Boden verteilt. Einen Stoß roter
kleiner Zettel wirft die zierliche junge
Frau direkt ins Publikum. Lilly Linder
zeigt den Menschen von Anfang an ihre
Gefühlswelt. Ihre Sprache ist dabei ihr
Körper, ihre Worte und ihr Handeln.
"Es gab viele letzte Tage in meinem
Leben. ... Ich habe mich großzügig über
die Zeit verteilt." Lilly Lindners Sprache
ist poetisch und gewinnt dabei an
Authentizität. Sie spricht über eine
Stunde lang frei. Die Besucher im
Offenkundig müssen sich entscheiden, ob
sie diesem Blick standhalten können und
sich so vollkommen auf die Geschichte
einlassen können. Denn es ist keine
einfache Geschichte, von der die Autorin
erzählt. Es ist ihre eigene Geschichte, in
der sie den frühen Freitod ihrer Mutter
erlebt, ihre erste Vergewaltigung
schildert, ihr Leben als Prostituierte und
die Folgen, die sich aus so viel Schmerz
ergeben: Magersucht, Gewalt gegen sich
selbst.
In Lilly Lindners Lesung ist viel
inszeniert. Zwischen den Textpassagen
finden musikalisch untermalte Szenen
statt, in denen sie von Isabella Vinet
unterstützt wird, die sie entweder
spiegelt oder mit der sie spielt. Trotzdem
hat der Zuschauer nicht den Eindruck,
einem Theaterstück beizuwohnen, sondern es
entsteht ein sehr intimes und persönliches
Gefühl. Die junge Frau tut alles, um ihr
Publikum mit einzubinden. Jede Handlung
ist symbolisch. Gemeinsam mit Isabella
Vinet wirft sie rote Wollknäuel in das
Publikum und spinnt so ein rotes Netz,
mittendrin die Menschen, die ihr zuhören.
"Wenn ihr euch umseht, dann fragt ihr euch
vielleicht, worin ihr verwickelt seid",
sagt die junge Frau mit direktem Blick.
Lilly Lindner zwingt ihr Publikum
hinzusehen, ohne sich dabei zur Schau zu
stellen. Am Ende sitzt sie ihrer
Spielpartnerin gegenüber, sie haben
Kunstblut an den Händen. Sie gehen ins
Publikum und reichen den Menschen die
tropfende Hand und blicken ihnen lange in
die Augen. Worte sind nicht nötig, die
Menschen im Publikum bleiben tief berührt
zurück. Am Ende der Lesung tritt eine
nachdenkliche Stille ein. Einige Besucher
beginnen auf dem Boden die Zettel,
Zeichnungen und Bonbons einzusammeln und
zu sortieren.
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